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Heimopfer auf der Suche nach ihren Schulkameraden - Wo ein Wille ist, da ist auch ein Telefon

Posted on December 8 2014

Im Blog des evangelischen Theologen Dierk Schäfer wurde darüber diskutiert, welche Möglichkeiten bestehen, möglichst viele Opfer zu erreichen. Es geht im Blogeintrag um den letzten Termin zur Anmeldung von Ansprüchen aus dem Fonds für Opfer von Heimen aus dem Bereich Erziehungshilfe. Bekanntlich ist der 31. Dezember 2014 dieser letzte Termin. Es wurde auch die Meinung geäußert, dass das Aufspüren von Heimopfern viel zu schwierig sei. Einige Frauen hätten geheiratet und damit einen anderen Namen angenommen, andere Ehemalige seien umgezogen.

Die „Freie Arbeitsgruppe JHH 2006“, eine kleine Gruppe ehemaliger Heimkinder und Mitarbeiter/innen des Johanna-Helenen-Heims der Orthopädischen Anstalten Volmarstein (heute Evangelische Stiftung) hat für die Personenfindung wenige Jahre gebraucht. Hilfsmittel waren Telefon und Telefon-CD. Das Gruppenmitglied Wolfgang Möckel besaß aus seiner Schulzeit bereits eine Sammlung von Namen, Adressen und Geburtstagen und steht bis heute mit einigen von ihnen in Verbindung. Er befragte zunächst die acht anderen Gruppenmitglieder und die ihm bekannten Mitschülerinnen und Mitschüler: „Wen kennt Ihr und welche Infos habt Ihr darüber?“ Auch fragte er bei jeder sich bietenden Gelegenheit bei seinen vielen Telefongesprächen danach. Viele Namen aus der Erinnerung kamen so zusammen.

Mit der Wohnortssuche war es etwas komplizierter. Doch hierbei entfaltete eine Telefon-CD (mit Sortierungsfunktion nach Straßennamen und Hausnummern) ihre Wirkung: Beim Wissen nach dem ungefähren Wohnort ließ sich Möckel die Liste der Männer und Frauen mit gleichem Namen ausgeben und telefonierte. Er führte hunderte Gespräche und fragte nach: „Sind Sie Herr/Frau YZ, damals wohnhaft in Volmarstein?“ So wurden die Kreise immer enger. Von anderen erfuhr Möckel den Ort der Wohnung und benötigte nur wenige Telefongespräche, um auch die Straße zu ermitteln. Oft war die angegebene Telefonnummer offensichtlich veraltet. So machte er sich eine Hilfsfunktion der CD zunutze, die alle Telefoninhaber im Umkreis auflistete. Möckel fragte, ob diese oder jene Person und die entsprechende Telefonnummer bekannt seien. Vereinzelt war der ehemalige Wohnsitz der Schulkameraden und -kameradinnen zwar bekannt, aber es fand zwischendurch ein Wohnungsumzug statt. Möckel wandte sich in einigen Fällen (wenn eine bisherige Adresse und das Geburtsdatum bekannt war) an die jeweiligen Einwohnermeldeämter und erfuhr unter Angabe dieser Daten die neue Adresse des Betroffenen (nach Überweisung der Gebühr). Es dauerte ein/zwei Jahre und Möckel hatte ca. 240 Ehemalige ermittelt. Dies entspricht sehr annähernd der gesamten Schülerzahl aus dem Johanna-Helenen-Heim. Eine umfangreiche Liste entstand mit Anschrift, Telefon und E-Mail und dem Vermerk, ggfls. über die Aufarbeitungsbemühungen der Arbeitsgruppe nicht informiert werden zu wollen. Alle Ehemaligen mit nun bekannten Adressen erhielten von der Evangelischen Stiftung Volmarstein, bei der eine Liste zuvor offensichtlich nicht vorlag, ein Exemplar des Buches der Historiker Winkler und Schmuhl, das im März 2010 im Handel erschien.

http://gewalt-im-jhh.de/Gewalt_in_der_Korperbehinderte/gewalt_in_der_korperbehinderte.html

Was bedeutet dies für die Aufarbeitung der Verbrechen in Heimen der Erziehungshilfe? Der „Runde Tisch Heimerziehung“ (RTH) hätte erkennen müssen, wie wichtig es ist, die einzelnen Opfer der Heime ausfindig zu machen. Zwar stand zu Beginn der Aktivitäten des RTH die Planung eines Opferfonds noch nicht fest, aber es stand bereits im Raum, dass viele Opfer eine Entschädigung verlangen würden. Auf entsprechende journalistische Nachfragen verkündete die damalige Familienministerin Ursula von der Leyen, dass solche Leistungen nicht vorgesehen seien. http://www.taz.de/!28571/

Wenig später wurden die Mittel für die Arbeit des Runden Tisches Heimerziehung drastisch gekürzt. So waren keine Gelder mehr vorhanden, die für Adressrecherchen hätten verwendet werden können. Das Beispiel der Freien Arbeitsgruppe zeigt allerdings auf:

  1. Bei gutem Willen können viele Mitschüler und Mitschülerinnen ermittelt werden
  2. Wenn die einzelnen Heimträger zu Beginn der Arbeitsaufnahme des RTH verpflichtet worden wären, diese Opfersuche zu bewerkstelligen bzw. dabei behilflich zu sein, könnten jetzt sicher viele Namen und Adressen vorliegen. Auch solche, die sich eventuell auf den letzten Drücker bei den Anlaufstellen mit einem Antrag für Beihilfen melden würden. Aber das war und ist wohl nicht gewünscht.
  3. Wenn die Heime die Opfer selbst mit der Kameradenfindung beauftragt und die damit verbundenen Kosten getragen hätten, wären den Opfern keine Kosten entstanden. So kann man es nur als Skandal bezeichnen, dass die Opfer noch die Kosten für die Opfersuche tragen.
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